Ob bei der Aufklärung von Verbrechen, beim Schutz von Gewaltbetroffenen oder in Krisensituationen – die Gerichtsmedizin arbeitet an der Schnittstelle von Medizin, Recht und Wissenschaft oft im Hintergrund, ist aber für die Gesellschaft unverzichtbar.
Aktuelle Entwicklungen dieser Schlüsseldisziplin stehen im Mittelpunkt der 104. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin, die vom 16. bis 19. September 2025 an der Medizinischen Universität Graz stattfindet. Fachleute aus dem In- und Ausland diskutieren dort über Fortschritte in der klinischen und postmortalen Gerichtsmedizin, forensischen Bildgebung, forensischen Molekularbiologie, forensischen Toxikologie und angrenzenden sowie interdisziplinären Bereichen.
Wenn Medizin und Recht ineinandergreifen
Die Arbeit von Gerichtsmediziner*innen geht weit über klassische Obduktionen hinaus: Sie führen Fundortbesichtigungen durch, rekonstruieren Tatabläufe, analysieren Blutspurenmuster, dokumentieren Verletzungen und treten als unabhängige Sachverständige vor Gericht auf. Auch chemisch-toxikologische Untersuchungen, Gutachten zu Behandlungsfehlern oder Abstammungsanalysen gehören zum Aufgabenspektrum.
Ihre Bedeutung wird besonders in Krisen deutlich: Beim Amoklauf in Graz wurden alle Todesopfer am Diagnostik- & Forschungsinstitut für Gerichtliche Medizin der Med Uni Graz obduziert, Verletzungen präzise dokumentiert und die notwendigen Gutachten erstellt – eine unverzichtbare Grundlage für die Ermittlungsbehörden.
Gerichtsmedizin schützt auch die Lebenden
Die Gerichtsmedizin ist nicht nur für Verstorbene von Bedeutung. Die Gewaltambulanz an der Med Uni Graz bietet in eigenen Räumlichkeiten eine niederschwellige Anlaufstelle für Betroffene von körperlicher oder sexueller Gewalt. Sie können dort kostenlos Hilfe erhalten – unabhängig von Alter, Geschlecht oder einer Anzeige bei der Polizei.
„Wir sind ein wesentliches Puzzleteil in einer vielfältigen Unterstützungslandschaft. Durch unsere Tätigkeit schaffen wir eine Übersetzungsleistung zwischen dem Strafrechtssystem, der medizinischen Versorgung und der forensischen Spurensicherung. Für eine von Gewalt betroffene Person wird es möglich, vor Gericht zu sagen: ‚Das ist passiert. Ich kann es beweisen‘“, erklärt Sarah Heinze, Leiterin des Diagnostik- & Forschungsinstituts für Gerichtliche Medizin an der Med Uni Graz.
Forschung, die Zukunft gestaltet
Die Grazer Gerichtsmedizin verbindet forensische Praxis mit international relevanter Forschung. Innovative Projekte reichen von telemedizinisch unterstützten klinisch-forensischen Untersuchungen („Forensic PETRA“) über die Datierung von Hämatomen mittels MRT bis hin zu strahlenfreien Methoden der Altersbestimmung. Auch das Pilotprojekt „Modellregion Süd“ zum Thema Gewaltschutz zeigt, wie sich forensische Expertise in eine moderne Unterstützungsstruktur für Gewaltopfer einbetten lässt.
Damit trägt das Institut nicht nur zur Aufklärung von Straftaten bei, sondern entwickelt Methoden, die den Opferschutz stärken und die Beweissicherung für die Justiz verbessern.
Beruf mit Spannung, Verantwortung und Zukunft
Die Tagung in Graz soll nicht nur die internationale Zusammenarbeit stärken, sondern auch das Berufsfeld für junge Mediziner*innen attraktiver machen. Denn trotz seiner hohen gesellschaftlichen Relevanz leidet das Fach unter akutem Nachwuchsmangel. Wer sich für Gerichtsmedizin entscheidet, wählt einen Beruf voller Verantwortung, wissenschaftlicher Vielfalt – und mit entscheidender Bedeutung für Gerechtigkeit.
Fragen & Antworten mit Sarah Heinze, Leiterin des Diagnostik- & Forschungsinstituts für Gerichtliche Medizin der Med Uni Graz
Warum ist Gerichtsmedizin für die Gesellschaft unverzichtbar?
„Unsere Arbeit liefert Antworten, wenn Fragen nach Wahrheit und Gerechtigkeit im Raum stehen. Wir klären Todesursachen, dokumentieren Gewalt, sichern Spuren und übersetzen medizinische Fakten in eine Sprache, die vor Gericht Bestand hat. Ohne forensische Medizin gäbe es deutlich weniger Rechtssicherheit für Opfer, Angehörige und die Gesellschaft insgesamt.“
Geht es in der Gerichtsmedizin immer um Obduktionen?
„Das ist ein weitverbreiteter Irrtum. Wir machen nicht nur Obduktionen, sondern auch Fundortbesichtigungen, Tatrekonstruktionen, Blutspurenanalysen, toxikologische und molekularbiologische Gutachten und klinische Untersuchungen bei lebenden Gewaltopfern. Gerade dieser Mix macht den Beruf so spannend und relevant.“
Wie unterscheidet sich Ihre Arbeit von TV-Serien wie CSI?
„Wir lösen keine Fälle im Alleingang, sondern sind Teil eines großen Ermittlungsnetzwerks mit Polizei, Justiz, Medizin und Opferschutzeinrichtungen. Was stimmt: Es braucht viel Detailgenauigkeit und manchmal auch detektivisches Gespür. Aber im echten Leben dauert es oft Wochen oder Monate, bis Ergebnisse vorliegen.“
Welche Rolle spielt die Gewaltambulanz?
„Die Gewaltambulanz ist eine niederschwellige Anlaufstelle für alle, die Opfer von körperlicher oder sexueller Gewalt geworden sind. Hier können Verletzungen kostenlos und gerichtsverwertbar dokumentiert werden – auch dann, wenn sich Betroffene noch nicht zu einer Anzeige entschlossen haben. Das gibt ihnen Zeit und Handlungsspielraum. Allein seit der Eröffnung der neuen Räumlichkeiten im Mai 2024 haben wir bereits zahlreiche Betroffene unterstützt.“
Gibt es aktuelle Forschung, die international Maßstäbe setzt?
„Ja. Besonders stolz sind wir auf unsere Projekte zur forensischen Telemedizin (‚Forensic PETRA‘), die Gewaltopfern auch in ländlichen Regionen einen schnellen Zugang zu forensischer Expertise ermöglicht. Ebenso arbeiten wir mit neuen Methoden und Methodenkombinationen in der forensischen Bildgebung, z. B. im Rahmen von Kindesmisshandlungen. Das sind Entwicklungen, die in Gerichtsverfahren enorme Bedeutung haben.“
Wie sieht es mit dem Nachwuchs in der Gerichtsmedizin aus?
„Leider gibt es in Österreich wie auch im gesamten deutschsprachigen Raum seit Jahren einen deutlichen Nachwuchsmangel. Dabei ist unser Fach hoch spannend, gesellschaftlich wichtig und international stark vernetzt. Wir hoffen, dass die Jahrestagung in Graz auch dazu beiträgt, junge Mediziner*innen für die Gerichtsmedizin zu begeistern.“
Welche Zahlen und Fakten verdeutlichen die Bedeutung Ihrer Arbeit?
- Rund 380 Obduktionen jährlich am Institut (zuständig für Steiermark, Kärnten, Südburgenland)
- Steigende klinisch-forensische Untersuchungen von Gewaltopfern pro Jahr (2024: 237)
- 6 Forschungsprojekte mit internationalen Partner*innen
- Gewaltambulanz seit 2008
- Kooperation mit Justiz, Polizei, Gesundheitswesen und Opferschutzeinrichtungen im Rahmen des Pilotprojekts „Modellregion Süd“
- Zahlreiche Fort- und Weiterbildungen zu klinisch-forensischen und forensisch-postmortalen Themen